Was macht eigentlich das Physicalische Cabinet oder die Historische Anthropologie? Welche Objekte findet man in einem Altertumswissenschaftlichen Filmarchiv oder einer Astrophysikalischen Sammlung? Als Althistoriker und Kurator des genannten Filmarchivs an der Uni Göttingen spreche ich vermutlich für die Mehrzahl meiner Kolleg*innen, wenn ich sage: Außenstehenden den eigenen Forschungsgegenstand verständlich zu erläutern, fällt uns als Wissenschaftler*innen oft schwer. Viele unserer Institute haben Sammlungen, die Schatzkammern gleichen – die aber ohne Einstiegshilfe unsererseits den meisten Menschen so verschlossen bleiben wie ein Tresor. Über Filme die oft unsichtbare Arbeit unserer Sammlungen sichtbar zu machen, war daher die Idee hinter einer Neuauflage der Kinoreihe “Curator’s Cut” gemeinsam mit dem Göttinger Programmkino Méliès.
Die richtige Balance
Die erste Reihe “Curator’s Cut” lief von November 2017 bis Mai 2018 unter gänzlich anderen Bedingungen: Das Méliès war damals noch eine baufällige Baptistenkirche. Das Forum Wissen befand sich erst im Werden, so dass “Curator’s Cut” eher als Vorgeschmack auf die Eröffnung wirken sollte. Sechs Jahre später konnten wir darauf bauen, dass in Göttingen inzwischen ein Museum existierte, das zeigt, was Wissenschaft ausmacht. Unser Fokus für “Curator’s Cut II” lag entsprechend auf dem Austausch über konkrete Fragestellungen und Herausforderungen unserer Sammlungen: der Rückführung von Beutekunst, der gesellschaftlichen Relevanz von Kultureinrichtungen oder Vorurteilen über (und in der) Wissenschaft. Vom Frühjahr 2023 an gab es dafür ein Jahr lang jeweils an einem Dienstagabend im Monat eine Sondervorstellung im Méliès. Die Kustod*innen nominierten Filme, in denen Objekte aus ihren Sammlungen vorkamen oder die ein wichtiges Thema ihrer laufenden Forschungs- und Ausstellungsprojekte ansprachen.
Die Vorführungen wurden eingerahmt von einer filmhistorischen und thematischen Einleitung bzw. einer abschließenden Diskussion mit dem Publikum unter wechselnden Leitfragen.Die Herausforderung bestand von Anfang an in der richtigen Balance: zwischen den sehr verschiedenen Sammlungen und Disziplinen; zwischen der Komplexität und der Anschlussfähigkeit unserer Leitthemen; zwischen der Verfügbarkeit und der Attraktivität der Filme. In einem Fall hätte etwa ein 40-minütiger französischer Dokumentarfilm inhaltlich perfekt zu einem Wunschthema einer Sammlung gepasst. Es gab ihn allerdings nicht mit deutscher Tonspur und nur in zu geringer Auflösung. Außerdem wäre er dem Kino alleine auch nicht zugkräftig genug und zu kurz für eine abendfüllende Vorstellung gewesen. Letztlich pendelten wir uns auf ein- bis zweistündige Produktionen meist neueren (oder sehr alten) Datums ein, wobei Letzteres auch mit der Verfügbarkeit der Aufführungsrechte zu erklären ist.
Wissenschaft in Serie
Den Auftakt machte am 26. April 2023 eine Vorführung von “The Halfmoon Files” zur Sonderausstellung “Stimmen” im Forum Wissen. Die Ausstellungsmacher*innen kamen mit den damals gut 30 Gästen ins Gespräch über die Frage, wer in der Wissenschaft Gehör finden kann oder sollte. Im Laufe des Kinojahrs wuchsen die Bandbreite der Themen und der Zuschauerzuspruch: Die Astrophysik wählte den Film “Der gute Kopf” passend zum 300. Geburtstag von Tobias Meyer. Die Geschichte des Autodidakten, der zum „Vater“ der Göttinger Sternwarte wurde, war aber zugleich der ideale Einstieg in eine Diskussion über die Rolle von Laien und Expert*innen in der Wissenschaft.
Besonders gut funktionierte dieser Aufbau mit (kultur-)politisch relevanten Fragestellungen: Die Ägyptologische Sammlung zeigte die Karl-May-Verfilmung “Durch die Wüste” von 1936, um Orientalismus und seine Auswirkung auf das Bild des Nahen Ostens bis heute anzusprechen. Viele Anwesende reflektierten in der Diskussion, wie emotionale Faktoren – zum Beispiel die nostalgischen Erinnerungen an die eigene Erstlektüre von Karl May – mit einem gewachsenen Kritikbewusstsein in Konflikt geraten können. Unser eigenes Altertumswissenschaftliches Filmarchiv Sammlung Stern schickte die BBC-Produktion “Hannibal” ins Rennen. Die Geschichte vom Feldzug der antiken Karthager nach Italien brachte uns in regen Austausch über die zeitlose Frage, wer eigentlich Geschichte macht – sprich: durch Entscheidungen gestaltet, aber auch die Erinnerung bestimmt. Die Analogie zu aktuellen Kriegen und gesellschaftlichen Konflikten wurde thematisiert, aber auch die Gefahr von Verallgemeinerungen und kontextlosen historischen Vergleichen in solchen Diskursen. Anhand des preisgekrönten Films “Das große Museum” diskutierten Vertreter*innen der Zentralen Kustodie mit dem Publikum über die gesellschaftliche Bedeutung und die Zukunft von Sammlungen und Museen.
Wichtig war uns, solche Querschnittsfragen über alle Disziplinen hinweg zur Sprache zu bringen: Das Pysicalische Cabinet entschied sich beispielsweise für “Die Vermessung der Welt”. Die Verfilmung des Romans von Daniel Kehlmann erwies sich als ideale Basis, um die Erwartung an die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft zu thematisieren: Ist anwendungsbezogene Forschung oder weitreichende Grundlagenarbeit die „bessere“ Wissenschaft? Warum fokussieren wir so stark auf einzelne Held*innen, in denen wir Genies und Schöpfer*innen von wahrem Fortschritt erkennen (wollen)? Die Sammlung der Historischen Anthropologie hatte dagegen den Boris-Karloff-Klassiker “Die Mumie” von 1932 nominiert. Eingangs wurde diskutiert, welche Effekte die popkulturellen Traditionen auf den wissenschaftlichen Alltag haben: mehr Aufmerksamkeit, Geld oder Studieninteressierte für „Arbeit mit Mumien“ versus stereotype Erwartungen oder unwissenschaftliche Dramatisierung von Ergebnissen? Daraus ergaben sich weiterführende Rückfragen zum Reiz, aber auch zur Angemessenheit der Auswertung und öffentlichen Darstellung von menschlichen Überresten. Am 6. Februar 2024 ging die Reihe zu Ende mit dem Beitrag der Kunstsammlung, genauer: mit dem Film “The Monuments Men” und einem Austausch über die Herkunft von Kulturgütern sowie die Verpflichtung zu deren Schutz und Rückführung.
Nachdem das Licht wieder angeht
Was in kleiner, aber dennoch diskussionfreudiger Runde begann, etablierte sich im Laufe des Jahres zu einer mehrfach (fast oder tatsächlich) ausverkauften Veranstaltung. Zum Erfolg trug wesentlich auch die immer produktive Zusammenarbeit mit der Film- und Kinoinitiative Göttingen e.V. als Betreiber des Méliès bei – und natürlich dessen Atmosphäre, wenn Kirchenarchitektur auf modernste Aufführungstechnik trifft. Die Filmkunstfreunde Göttingen e.V. unterstützten die Reihe nicht nur in personeller Hinsicht. In diesem Zusammenspiel, und dafür bin ich als Kurator einer der vielen selten sichtbaren Sammlungen besonders dankbar, wurde der eingangs genannte Zweck mehr als erfüllt. Die Filme wurden zu echten Türöffnern: Ursprünglich hatten wir eine Viertelstunde nach jedem Film für den Austausch mit dem Publikum angedacht. Teilweise mussten wir die Diskussionen nach über einer halben Stunde offiziell beschließen – und in Einzelgesprächen vor dem geschlossenen Kino weiterführen. Klassiker wie “Die Mumie” einmal im Kino sehen zu können und eine solche Reihe monatlich moderieren zu dürfen, war auch auf persönlicher Ebene einfach eine Freude.
Außerdem sollte man die unerwarteten Nebeneffekte der ungewohnten Aufmerksamkeit nicht vergessen. Unser Altertumswissenschaftliches Filmarchiv Sammlung Stern beispielsweise hat noch nie so viele Neuspenden an Filmen oder Technik erhalten wie nach den entsprechenden Aufführungen. Und falls Sie sich noch immer fragen, was Sie bei uns finden können: Wir sammeln alle Arten von Filmen über die Zeit von der Frühgeschichte bis zum Beginn des Mittelalters, außerdem über Antikenrezeption, antike Sprachen, Ausgrabungen oder andere altertumswissenschaftliche Methoden. Nutzeranfragen und Spenden werden immer gerne entgegengenommen, auch über “Curator’s Cut II” hinaus …