Betritt man die Bernsteinausstellung, scheint es, als betrete man eine andere Welt. In schummrig-wohligem Licht wandelt man über dunkelbraunen Grund, während sich auf einem großen Banner an der Wand Säugetiere und Vögel im Dickicht von grünen Pflanzen und Bäumen tummeln. Vor dem Banner stehen Grünpflanzen, unter denen man verschiedene Insekten und Spinnentiere findet: Kakerlaken und Skorpione, die fast echt erscheinen. All das bildet die Bühne für den eigentlichen Star: Bernstein.
Im Bernsteinwald
Mit der Gestaltung der Ausstellung bilden Sammlungskustos Alexander Gehler und sein Team den Bernsteinwald nach. Besucherinnen und Besucher können in dieser warmen Atmosphäre ganz in die Ausstellungsstücke eintauchen: Die Bernsteinobjekte werden in ihren Schaukästen illuminiert.
Mit ihrer fast 30.000 Stücken umfassenden Sammlung gehört die Göttinger Bernsteinsammlung zu den fünf größten weltweit. Der überwiegende Teil der Objekte besteht aus Baltischem Bernstein, der zwischen 40 und 50 Millionen Jahre alt ist. Es gibt aber auch älteren Bernstein, zum Beispiel aus der Kreidezeit. Die Ausstellung ist in zwei Bereiche unterteilt: die Naturgeschichte und Kunst- und Kulturgeschichte des Bernsteins.
Fauna und Flora im Bernstein
Die Hälfte der Dauerausstellung widmet sich der Naturgeschichte des Bernsteins in Form von Inklusen. „Wir zeigen eine breite Vielfalt an Fauna und Flora im Bernstein – so viel wie in kaum einem anderen Museum weltweit“, beschreibt Gehler den Aufbau. Inklusen sind Bernsteinstücke, in die organische Stoffe wie Pflanzen, Insekten oder seltener auch Wirbeltiere eingeschlossen sind. Diese wurden vor Jahrmillionen in flüssiges Baumharz eingeschlossen, der dann zu festem Bernstein wurde und seinen Einschluss für die Nachwelt bewahrt. Genetisches Material aus dem Bernstein zu extrahieren, ist aber nicht möglich. „Bei der Öffnung von Bernsteinen findet sich mutmaßlich nicht mehr als ein Abdruck, der sich erhalten hat“, sagt die Sammlungsmanagerin Lina Leschner, die auch für die Restaurierung verantwortlich ist: „Gleichzeitig wird der Einschluss oft durch die Öffnung zerstört.“
Kunst und Kultur aus Bernstein
Die Faszination, die dem Bernstein wohl seit Beginn der Menschheitsgeschichte entgegengebracht wird, zeigt sich daran, dass spätestens seit der Altsteinzeit Kunstgegenstände daraus geschaffen wurden. Das Material ist leicht zu bearbeiten und wurde zu Kultgegenständen oder Schmuck verarbeitet. „Wir haben die schönsten Stücke aus den verschiedenen Epochen ausgestellt: Es gibt jeweils eine Vitrine zur Jungsteinzeit, zur Bronze- und Eisenzeit sowie zur Neuzeit“, erklärt Gehler.
Das Academische Museum
Mit Gründung des Academischen Museums im 18. Jahrhundert in Göttingen ist die Bernsteinsammlung entstanden: Johann Friedrich Blumenbach hat neben Inklusen auch verarbeiteten Bernstein gesammelt, um dessen Kunst- und Kulturgeschichte zu dokumentieren. Aus Blumenbachs Zeit sind aber nur noch etwa 250 Objekte erhalten. Denn Bernstein ist ein empfindliches Material und die Museen hatten in vergangenen Jahrzehnten nicht immer die Möglichkeiten, ihre Objekte optimal aufzubewahren. So konnten die größten Feinde des Bernsteins – UV-Strahlung, Luftsauerstoff und größere Schwankungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit – sich fast ungehemmt an dem vergänglichen Stoff vergehen. Heute lassen etwa die Vitrinen gerade mal ein Prozent der UV-Strahlung durch.
Die Königsberger Sammlung
Der Großteil des heutigen Bestandes besteht aus der ehemaligen Bernsteinsammlung der Albertus-Universität Königsberg, deren wichtigsten Objekte kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in die Region Göttingen kamen. Dort wurden sie zum Schutz in einem Kalischacht in Volpriehausen eingelagert, in welchem später durch ein Explosionsunglück Teilbestände vernichtet worden sind. Die Königsberger Sammlung bestand zu ihrer Blütezeit aus circa 120.000 Objekten. Es konnte nur ein Sechstel – etwa 18.000 Stücke – des ursprünglichen Bestandes gerettet werden, der nun in Göttingen treuhänderisch verwahrt wird.
Verliehen und vergessen – gestohlen und bereut
Es gibt immer noch Rückgaben von Sammlungstücken, die etwa in Schubladen von Forschenden vergessen wurden. Des Weiteren brachten Göttinger Studierende, die Bernsteinstücke während der Bergung im Kalibergwerk stahlen, diese nach vielen Jahrzenten wieder zurück. Zum anderen werden aber auch in anderen Sammlungen Bestände ausfindig gemacht, die vor der Zerstörung der Universität Königsberg verliehen wurden. Alexander Gehler entdeckte mit seinem Team Stücke in einer Onlinedatenbank des Museum of Comparative Zoology in Harvard, die die typischen Königsberger Sammlungsnummern tragen. „Aktiv haben wir online 70 Stücke erkannt“, so der Göttinger Kustos: „Mit der Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen dort konnten wir insgesamt 400 Stücke identifizieren und zurückholen.“
Internationale Forschung in der Sammlung
Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen in der Sammlung, von der in der Dauerausstellung lediglich ein Prozent zu sehen sind. Es sind Spezialistinnen und Spezialisten, die die Sammlung besuchen: aktuell eine polnische Wissenschaftlerin, die spezielle Formen von Wanzen untersucht, ein holländischer Fliegenforscher, der eine bestimmte Zweiflüglerfamilie erforscht. Aber auch Geisteswissenschaftler, wie eine russische Archäologin. Sie erforscht hier Bernsteinschnitzereien, die in der Jungsteinzeit als Kultgegenstände dienten. Anhand der Mikrostruktur der Materialoberfläche findet sie heraus, wie die Objekte genutzt wurden.
Rückkehr in das Forum Wissen
Ab 2021 zeigt das Forum Wissen in dem ehemaligen Gebäude des 1877 eröffneten Naturhistorischen Museums ausgewählte Stücke aus den Göttinger Sammlungen. Dort werden auch Objekte aus der Bernsteinsammlung ausgestellt. „Wir haben noch viele Objekte aus Bernstein, die wir gern der Öffentlichkeit präsentieren möchten“, sagt Gehler. Wer solange nicht warten möchte, kann jeden Sonntag im Rahmen der Sonntagsspaziergänge von 11 bis 16 Uhr in den Bernsteinwald im Geowissenschaftlichen Museum in der Goldschmidstraße 3-5 eintreten.
(Fotos: Julian Schima)