Das Sammlungsschaufenster des Forum Wissen zeigt Objekte, die nicht nur die Vergangenheit der Medizin, sondern auch die handwerkliche Kunst vergangener Zeiten offenbaren: Dank der großartigen handwerklichen Fähigkeiten ihrer Schöpfer kann die Moulagensammlung des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin einen sehr real wirkenden Einblick in die Welt der Hauterkrankungen bieten. Knapp 80 Moulagen sind erhalten. Der Fokus liegt dabei auf Krankheiten wie Syphilis, Gonorrhö und Tuberkulose, die bis heute weit verbreitet sind.
Moulagen sind aus Wachs und sehr empfindlich. Das Sammlungsschaufenster zeigt nicht die Objekte selbst. Stattdessen veranschaulicht es, welche Geschichten von kranken Menschen sich damit verbinden.
Die Kunst der Moulagen
Moulagen sind realistische, lebensgroße Nachbildungen von Körperteilen, die dreidimensional und farbig gestaltet sind. Ihr Zweck besteht darin, menschliche Krankheitsbilder naturgetreu darzustellen. Durch die präzise Nachbildung von Form, Farbe und Beschaffenheit erkrankter Körperteile ermöglichen Moulagen eine plastische Dokumentation von Krankheitsbefunden.
Diese Wachsabbildungen bieten einen einzigartigen Einblick in historische und zeitgenössische Krankheitsbilder. Sie wurden daher um 1850 zu wertvollen Lehr- und Forschungsmitteln. Wegen des Vormarsches der Fotografie im 20. Jahrhundert verloren Moulagen dann an Wert für die Medizin. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Realitätsnähe übernehmen sie heute aber eine bedeutende Rolle als kultur- und medizinhistorische Artefakte.
Warum werden die Moulagen jedoch nicht im Sammlungsschaufenster gezeigt? Der Grund liegt in ihrer Empfindlichkeit gegenüber Licht und Wärme, die das Wachs zum Schmelzen bringen würden. Aus konservatorischen Gründen werden die Moulagen daher geschützt und in speziellen Umgebungen aufbewahrt. So zeigt das Forum Wissen beispielsweise im Raum Atelier und Hörsaal im ersten Obergeschoss einige Moulagen, weil dort andere Lichtverhältnisse herrschen.
Von Salben bis Krankenakten: Einblick in die Geschichte der medizinischen Behandlungen
Im Sammlungsschaufenster des Forum Wissen sind verschiedene Objekte ausgestellt, die Einblicke in die Geschichte der Medizin und die Behandlung von Haut- und Geschlechtskrankheiten ermöglichen. Ein Apothekengefäß für Salbe aus der Göttinger Klinik und Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten stammt etwa aus der Zeit zwischen 1960 und 1980. Dieses Gefäß steht für die Vielfalt der in der Vergangenheit angewandten Methoden, um Patienten mit Krätze, Gonorrhö oder Syphilis zu behandeln. Damals spielten Salben, Zinkpasten, Jod oder Quecksilber eine bedeutende Rolle bei der Linderung von Beschwerden.
Zu sehen sind historische Krankenakten aus dem Zeitraum zwischen 1920 und 1940. Sie gewähren nicht nur einen Einblick in die medizinische Versorgung, sondern auch in die individuellen Lebensumstände der Patientinnen und Patienten. Die Krankenakten sind eine wertvolle Ressource für die medizingeschichtliche Forschung. Sie erlauben die Rekonstruktion von Krankengeschichten und können individuelle Schicksale im Kontext des Krankenhauses aufzeigen. Auch wenn diese Fälle lange zurückliegen: Das Recht auf Privatsphäre wird dabei stets beachtet.
Zwei Krankengeschichten
Ein interessantes Objekt ist die Krankenakte einer Patientin mit Dermatitis artificialis aus dem Jahr 1938. Vorgeschichte, Diagnose und Verlauf einer Hautkrankheit werden in dieser Akte beschrieben. Es stellte sich heraus, dass die Entzündung der Patientin durch Gummi ausgelöst wurde. Die Behandlung mit verschiedenen Salben war zunächst erfolglos. Der dokumentierte Briefwechsel zwischen Arzt und Patientin zeigt jedoch, wie intensiv die Bemühungen waren, die Krankheit zu behandeln und ein Ausbreiten zu verhindern.
Gut dokumentiert ist auch die Geschichte eines 19-jährigen Patienten, bei dem eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert wurde. Als sich der junge Mann in die Klinik begab, um medizinische Hilfe zu suchen, wurde nicht nur seine Erkrankung erkannt und behandelt. Der behandelnde Arzt entschied sich auch dafür, eine Wachsmoulage seines Arms anfertigen zu lassen, um das Erscheinungsbild dieser ungewöhnlichen Erkrankung festzuhalten. Diese Moulage wurde in die Sammlung aufgenommen. Sie datiert auf das Jahr 1927 und trägt zur dokumentierten Geschichte der medizinischen Praxis bei.
Die Welt der Moulagen: Medizingeschichte und künstlerisches Engagement
Die Geschichte der Göttinger Sammlung reicht bis ins Jahr 1917 zurück, als die Hautklinik der Universität Göttingen unter der Leitung von Professor Erhard Riecke (1869–1939) eröffnet wurde. In den 1920er- und 1930er-Jahren begann die Sammlung der detailgetreuen Abformungen krankhaft veränderter Körperregionen und Hautpartien Gestalt anzunehmen. Renommierte Wachsbildnerinnen und Wachsbildner wie Luise Volger (1883–1956) aus Zürich, Alfons Kröner (gest. 1937) aus Breslau, Fritz Kolbow (1873–1946) aus Dresden und Carl Henning (1860–1917) aus Wien trugen dazu bei, diese beeindruckenden wie erschreckend echt wirkenden Kunstwerke zu schaffen. Auch August Leonhardt (1891–1954), der Mouleur der Göttinger Hautklinik, fertigte einige dieser Wachsobjekte.
Die Moulagensammlung der Universität Göttingen zeugt von der Entwicklung der Medizin. Sie zeigt auch die Kunstfertigkeit und das Engagement der Künstlerinnen und Künstler vergangener Zeiten. Diese Sammlung, die sich vor allem auf Haut- und Geschlechtskrankheiten konzentriert, vermittelt einen einzigartigen Einblick in die medizinische Praxis und die sozialen Umstände vergangener Jahrzehnte.
Seit 1993 befindet sich die Sammlung im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin. Dort dienen sie weiterhin als Ressource für Forschung und Lehre. Besucher der Dauerausstellung im Institut können die beeindruckenden Moulagen bewundern. Sie haben außerdem die Möglichkeit, mehr über den historischen Kontext und die Patientengeschichten hinter den Abbildungen zu erfahren. Die Moulagensammlung der Universität Göttingen ist somit nicht nur ein kulturelles Erbe, sondern auch ein lebendiges Zeugnis für die Vielseitigkeit der medizinischen Wissenschaft.